Verdränge ich meine Trauer? Wann geht meine Trauer vorbei? Wie trauert man richtig? Es gibt viele Fragen im Zusammenhang mit Verlust und Trauer, die im Leisen gestellt werden. Über sie gesprochen wird nur selten. Obwohl wir alle früher oder später mit der Endlichkeit des Lebens in Berührung kommen, trägt hier jeder seine eigene Wahrheit im Herzen. Für mich ergab sich noch mal ein ganz neuer Blick, als ich die internationale moderne Trauerforschung entdeckte. Sie nimmt Trauer erstmals mit empirischen Studien unter die Lupe – und stellt damit manche klassische Vorstellung über Trauer auf den Kopf.
Ich war 13, als meine Mutter an Brustkrebs starb, und 33, als ich begann, mich erstmals so richtig damit zu beschäftigen. Ich las Ratgeber, Biografien und wissenschaftliche Texte über den Verlust nahestehender Menschen. Ich lernte über Trauerphasen und Trauerarbeit und verschiedene Wege, wie man Trauer bewältigen kann. Über die psychischen Auswirkungen, die der Verlust der Geborgenheit einer Mutter je nach Altersstufe auf ein Kind haben kann. Über die Veränderungen im Familiengefüge, wenn die Tochter an die Stelle der Mutter nachrückt. Über tiefsitzende Traumata, wie man sie lösen kann und mehr …
Wie trauere ich richtig?
Eins hatte der Großteil der Texte gemeinsam: Ich konnte mich in ihnen nur selten wiedererkennen. Meine Erfahrungen schienen mir in den meisten Fällen ganz anders, teilweise sogar konträr. Ich blicke positiv auf meine Verlusterfahrung. Ja, ich bin dankbar für die Erkenntnisse und Sichtweisen, die ich in Verbindung mit dem Tod meiner Mutter entwickeln durfte. Eine solch positive Perspektive war in dem, was ich las, stark unterrepräsentiert. So stieß ich erneut auf die Frage, die sich mir zuvor bereits hin und wieder stellte. Die Frage, ob etwas mit mir nicht stimmt.
Verdränge ich meine Trauer?
Wie kann es sein, dass ich all das so gut verkraftet habe? Warum kann ich der Sache sogar Gutes abgewinnen? Lüge ich mir in die Tasche? Verdränge ich etwas? Verdränge ich alles? Bin ich emotional blockiert? Bin ich eine eiskalte Person? Fehlt mir Mitgefühl? Habe ich meine Mama nicht geliebt? Trickst meine Psyche mich aus, um mich vor dem Verlustschmerz zu beschützen? Läuft hier etwas schief bei mir?
Wie hochgradig individuell wir Menschen Trauer erleben und dass mit mir alles in bester Ordnung ist – das wurde mir erst vor gar nicht so langer Zeit bewusst, als ich die moderne internationale Trauerforschung entdeckte. Eine superspannende, noch sehr junge Wissenschaft, die es erst seit etwa 25 Jahren gibt. Ich werde in diesem Blog noch öfter über sie berichten. 🙂 Aber beginnen wir mit den Basics …
Wie fühlt sich Trauer an?
Wenn wir von Trauer sprechen, ist oft gar nicht so klar, was wir konkret meinen, denn Trauer ist ein Sammelbegriff für die verschiedensten Gefühlsformen. Zu Trauer gehören Sehnsucht, Traurigkeit, Einsamkeit, Angst, Wut, Schuld, emotionale Leere oder Betroffenheit. Häufig zeigt sich Trauer aber auch in positiven Gefühlen wie etwa Erleichterung, Mitgefühl, Liebe oder Dankbarkeit. Interessanterweise gehören sogar die Freude und das Lachen zum Trauerprozess, dazu in einem anderen Blogartikel mehr.
Diese Gefühle können gleichzeitig oder nacheinander oder wiederkehrend oder sonstwie aufkommen. Ihre Form, Intensität und Dauer variieren von Person zu Person. Für die Trauerphasen – von denen im Internet, in Büchern und sogar auf Websites von Fachleuten wie beispielsweise Trauerbegleitern noch sehr häufig zu lesen ist – konnte in empirischen Studien kein Beleg gefunden werden.
Wann geht Trauer vorbei?
Wie jemand Trauer erlebt und wann sie vorbeigeht, hängt von diversen Faktoren ab: Darunter das Alter, in dem man den Tod erlebt, die Tiefe der Beziehung zwischen den Hinterbliebenen und Verstorbenen sowie die Todesursache. Aber auch die Zeit vor dem Tod ist relevant: Gab es hier bereits Veränderungen in der Beziehung, wie im Fall einer längeren Krankheit? Gab es vorab Gefühle des Abschieds? Und hinterher: Blieb etwas Wichtiges ungesagt? Gibt die nötige Sicherheit, den Raum und die Zeit, um die Trauer ausdrücken zu können? Nicht zuletzt spielen auch die Erfahrungen, Überzeugungen sowie Resilienzfähigkeit der Hinterbliebenen eine bedeutende Rolle.

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Resilienz in der Trauer ist häufig
Die meisten dieser Einflussfaktoren liegen mehr oder weniger auf der Hand, dachte ich, als ich zum ersten Mal von ihnen las. Einen der Punkte hatte ich allerdings nicht auf dem Schirm – die Resilienzfähigkeit, auch Widerstandsfähigkeit genannt. Der Begriff bezeichnet die psychische Veranlagung, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen. „Resilire“ bedeutet so viel wie zurückspringen oder abprallen. Du kannst dir das wie bei einer Quietscheente vorstellen, die du in deiner Hand zerknautschst: Sie baut sich schnell von alleine wieder auf. Die wunderbare Nachricht: Die Wahrscheinlichkeit, auf den Tod eines nahestehenden Menschen resilient zu reagieren, ist hoch.
Resilienz im Trauerfall ist eher die Norm als die Ausnahme, wie George A. Bonanno, Pionier der modernen Trauerforschung, und weitere, nachgewiesen haben. Der Tod eines geliebten Menschen kann einen resilienten Menschen durchaus erschüttern – und doch ist er in der Lage, schnell in seine Ausgangsform zurückzufinden und bemerkenswert gut mit der Erfahrung umzugehen. Er lebt oft schon Tage oder Wochen später seinen gewohnten Alltag und hat Freude am Leben, auch auf lange Sicht. Das gilt, wie gesagt, für die Mehrheit der Verlust-Betroffenen. Fernab von Trauerphasen oder Trauerarbeit.
Verdrängte Trauer ist selten
Solch widerstandsfähige Menschen geraten schnell unter Verdacht, nicht „richtig“ zu trauern. Ihr Verhalten stößt häufig auf Skepsis, Erstaunen oder Bedenken. So wird wird ihnen beispielsweise nicht geglaubt, wenn sie kurz nach ihrem Verlust sagen, dass es ihnen gut geht. Oder wenn sie sich schnell wieder in die Arbeit stürzen, wirkt das auf manche wie eine ungesunde Ablenkungsstrategie. Oft kommt der Gedanke auf, dass oder sie womöglich seine Trauer verdränge oder unterdrücke. Doch verdrängte Trauer, das wurde ebenso in Studien herausgefunden, trifft gerade einmal auf null bis fünf Prozent der Trauerfälle zu. Wir brauchen also keine Angst vor Verlust oder Trauer zu haben, denn wir sind dafür gemacht. Alles andere wäre eigentlich auch verwunderlich, oder? Schließlich handelt es sich ja um eine zutiefst menschliche Erfahrung.
Natürlich, das darf nicht untergehen, gibt es Hinterbliebene, die mit anhaltenden, schweren Trauerverläufen kämpfen. Nach George A. Bonanno haben gewöhnlicherweise etwa zehn bis 15 Prozent aller Hinterbliebenen Trauerreaktionen, die sie noch Jahre nach dem Tod eines Angehörigen in ihrer Funktionsfähigkeit beeinträchtigen. Das klingt zunächst wenig und es ist eine klare Minderheit. Wenn man jedoch bedenkt, dass jeder Mensch mindestens einmal in seinem Leben mit Verlust und Trauer in Berührung kommt, dann sind zehn bis 15 Prozent eine große Zahl. Erschwerte, traumatische oder komplizierte Trauer sind ernstzunehmende Themen, die ich nicht kleinschreiben will.
Schwere Trauer, keine Trauer – alles darf sein
Es gibt aber auch Menschen, die nach einem Verlust überhaupt keine Trauergefühle erleben. Früher galt das als ungesund. Heute weiß man, dass es häufiger als angenommen auftritt und ebenso nichts Außergewöhnliches oder Besorgniserregendes ist. Es bedeutet nicht, dass der Hinterbliebene seine Trauer unterdrückt, ihr entflieht oder eine Fassade aufrechterhält. Es hat nichts damit zu tun, dass ihn die Trauer in späteren Jahren womöglich einholt. Ebenso wenig ist es ein Indiz dafür, wie viel ihm an dem Verstorbenen lag. Es ist vielmehr so, dass Verlust eben nicht immer mit einer emotionalen Belastung einhergeht. Jeder Mensch nimmt auf seine Weise Abschied. Alles darf sein.
Wenn du also jemanden verloren hast, aber Trauer für dich kein Thema ist, dann ist das okay. Wenn du gerade aktiv trauerst, dann sei zuversichtlich, dass du das schaffst, denn du bist stärker, als du möglicherweise selbst glaubst. Wenn du Trauer in dir trägst, die dein Körper bislang nicht zulassen konnte, dann ist auch das in Ordnung. Dein Körper schützt dich und wartet auf den richtigen Raum und die richtige Zeit. Und wenn du das Gefühl hast, dass du dich mit deinem Verlust beschäftigen solltest, dann darfst du auf deine Intuition vertrauen – und damit beginnen.
Durch Verlust und Trauer wachsen
Ich glaube: Jede Berührung mit Tod und Trauer hinterlässt Spuren auf der Seele. Und diese Spuren kannst du für dich nutzen – um bewusster zu werden, zu wachsen, mehr Freude und Sinn in dein Leben zu holen. Es wird immer traurig bleiben, dass sie oder er nicht mehr bei dir ist. Es wird sich aber auch eine andere, wertvolle Perspektive auf das Leben entwickeln. Es ist gerade die Berührung mit dem Menschlichsten, die die Türe zu neuen Einsichten öffnet, die dir dein Leben lang dienen können. Ich sage nicht, dass das für alle Hinterbliebenen zu jedem Zeitpunkt der richtige Weg ist, aber: Es ist ein möglicher Weg.
Ich bin mir sicher: Ohne meine Erfahrungen aus dem Tod meiner Mutter wäre ich nicht die, die ich heute bin – und dafür bin ich dankbar. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich mir wünschen, sie wäre noch hier. Aber diese Wahl habe ich nicht. Die Wahl, die ich habe, ist, wie ich damit im Hier und Jetzt umgehe.
Über Verlust und Trauer zu schreiben oder sprechen ist nicht einfach, weil es de facto nicht einfach ist. Jeder trägt hier seine eigene Wahrheit im Herzen – und das darf so sein. Egal, wie du trauerst oder nicht trauerst, du macht es für dich genau richtig.

Als Mentaltrainerin begleite ich dich zu Klarheit und mentaler Stärke – der Schlüssel für dein wahres Ich.
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